Wladimir Kaminer ist ein Schriftsteller mit starken Botschaften. Während die EU politisch geschwächt um ihren Platz in der Welt kämpft, betätigt der Bestsellerautor aus Berlin sich als Brückenbauer. Sein neues Buch „Mahlzeit!“, das er am 23.1. bei der Leselust im ZENTRUM vorstellt, ist ein Plädoyer dafür, mehr mit Fremden zu reden. Mit Wladimir Kaminer sprach Olaf Neumann über ein Europa der Zukunft.
Herr Kaminer, Ihr neues Buch heißt „Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen“. Als Buchautor, Geschichtenerzähler und Filmemacher sind Sie schon in vielen europäischen Ländern mit Fremden essen gegangen. Ist Essen aus Ihrer Sicht die beste Möglichkeit, sich einer anderen Kultur anzunähern?
Wladimir Kaminer: Ja, überhaupt, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Selbst in der eigenen Kultur hat man zurzeit Schwierigkeiten. Zumindest wird darüber berichtet, wie gespalten die Gesellschaft ist und die Menschen sich in verschiedene Blasen aufteilen. Oft weiß man gar nicht, wie es dem nächsten Nachbarn gerade geht. Mir scheint, als würde das Essen der letzte Zusammenhalt einer Gesellschaft sein. Menschen, die sonst niemals nebeneinander an einem Tisch sitzen würden, kommen beim Essen locker ins Gespräch. In meinem Buch „Mahlzeit!“ werden aber keine Rezepte präsentiert.
Spricht man mit Fremden eigentlich weniger gehemmt als mit Freunden oder Familie?
Kaminer: Bei mir ist es eine besondere Situation, da ich als Schriftsteller, Geschichtenerzähler oder Vertreter der deutschen Kultur unterwegs bin, werde überall als Freund empfangen. Im europäischen Ausland halten mich viele Leser für einen Freund oder guten Bekannten, als würden wir uns gut kennen. Und ich tue dann bei Fremden immer so, als seien sie wirklich mit mir verwandt. Auch in Deutschland muss ich so tun, als würde ich alle kennen.
Stellen Sie sich im Ausland als Russe oder eher als deutscher Staatsbürger vor?
Kaminer: Ich weiß noch immer nicht, wer ich bin. Ich habe eine Badegastmentalität. Ich bin in der Sowjetunion sozialisiert worden, in einem ideologischen Komplex, der sich im vorigen Jahrhundert aufgelöst hat. Das passiert jedem Imperium früher oder später. Inzwischen weiß kaum jemand noch, wie die Sowjetunion wirklich war. Ich habe viel darüber geschrieben und kann im Grunde behaupten, was ich will. So wie ich es sage, wird es wohl gewesen sein. Nüchtern gesehen bin ich ein sowjetischer Mensch mit einem deutschen Pass.
Sie möchten nicht gern in politische Diskussionen verwickelt werden. Wie vermeiden Sie, dass es dazu kommt?
Kaminer: Wir leben in einer Zeit, in der jede Diskussion politisch wird, auch, wenn es ums Essen geht. In diesem Buch versuche ich anhand von Essensgeschichten, über politische Themen aufzuklären. Die Politik wird zum Alltag, und im Alltag kommt man am besten übers Essen zu einer solidarischen Haltung.
Besonders deutlich werden die Unterschiede zwischen den Kulturen ja bei den Mahlzeiten. Und immer, wenn es viele Regeln gibt, kann man auch viel falsch machen. Sind Sie schon mal so richtig ins Fettnäpfchen getreten?
Kaminer: Eigentlich nicht. Man darf nicht zu wählerisch sein und keine großen Erwartungen haben an Küchen, die man nicht kennt. Wenn die Gastgeber sehen, dass ihr Gast bereit ist zu experimentieren und alles mit Begeisterung aufnimmt, sind sie deine Freunde. Es gibt Kulturen, wo am Tisch eher wenig gesprochen wird, zum Beispiel in Deutschland. In Spanien hingegen wird mehr geredet als gegessen. Dort essen sie skurilles Zeug wie Fischköpfe mit Zwiebeln oder Suppe mit gekochten Muscheln. Darin sehen sie die ruhmreichen Seiten der Geschichte ihres Landes.
Was tun Sie, wenn Sie gerade keinen Appetit auf eine besonders exotische Speise haben?
Kaminer: Wenn die anderen das essen und am Leben bleiben, kann mir auch nichts passieren. Essen was den anderen schmeckt ist eine große Geste der Solidarität.
Wie oft haben Sie es schon erlebt, dass das Kulinarische zu einer Schlichtung bei kulturellen, religiösen oder politischen Uneinigkeiten oder zur Überwindung von Stereotypen und Vorurteilen geführt hat?
Kaminer: Schon oft. Meine Lieblingskapitel in dem Buch sind die über die neuen EU-Länder bzw. die EU-Kandidaten wie die Republik Moldau, die ewig beleidigten Bulgaren oder die Kroaten, die die EU quasi benutzen, um sich von den Serben abzugrenzen. Diese Länder sehen sich innerhalb der EU als nicht vollwertig an. In Bulgarien etwa kam bei der Übertragung der Europameisterschaft der Ton eine Sekunde eher an als das Bild. Die Bulgaren haben sich deswegen sehr aufgeregt und alle angeschrieben von der UNO bis zur FIFA. Aber niemand hat etwas unternommen.
Sie waren in der Republik Moldau zu einer Deutschlehrertagung eingeladen. Welche Vorstellung haben Menschen im ärmsten Land Europas von Deutschland?
Kaminer: Diese Armut fällt einem nicht wirklich auf. Ich habe in Berlin viel mehr Obdachlose, Arme und Kranke unter den Brücken gesehen als in Kischinau, der Hauptstadt, wo alles ziemlich gut gepflegt ist. Vielleicht ist es ja wirklich so, dass in armen Ländern Menschen mehr Solidarität füreinander zeigen. Bei Spaziergängen über den Markt in Kischinau bekommt man immer irgendetwas zum Probieren angeboten. Die Menschen dort halten die EU für eine Art Schatzinsel, aber das ist wohl mehr Mythos als Wahrheit. Man könnte diesen Mythos doch benutzen, um ein gescheites Europa der Zukunft zu erschaffen. Es muss ja nicht dieses ambivalente, politische Mir-nichts-dir-nichts-Ding sein.
Das Konzept Europa hat aus Ihrer Sicht eine Zukunft?
Kaminer: Eine Chance, ja. Der Name ist ja schon mal gut. Europa hat eine lange Geschichte. Ich habe eine Statistik gelesen über die Völker Europas, die sich ihren Nachbarn kulturell überlegen fühlen. Die Griechen waren da natürlich ganz vorne, und dann kamen Albanien und Serbien, die sich alle für kulturell besonders hoch entwickelt halten. Und nicht etwa Frankreich oder Deutschland, das Land der Dichter und Denker. Der Trick wäre zu zeigen, dass all die unterschiedlichsten Völker miteinander besser leben als gegeneinander. Dann hätte die EU eine große Chance für die Zukunft der Welt. Ich hoffe sehr, dass etwas daraus wird, ob jetzt mit oder trotz der momentanen politischen Entwicklung.
Von einem Hotelier haben Sie erfahren, dass amerikanische Touristen eine Reise nach Berlin absagten, weil ihnen die deutsche Hauptstadt zu nah an der Front zu liegen schien. Reisen Sie selbst viel vorsichtiger, seit Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt?
Kaminer: Mein Freund Yuriy zum Beispiel, mit dem ich 20 Jahre lang die “Russendisko“ betrieben habe, fährt jetzt noch regelmäßig nach Charkiw zum Musikmachen, obwohl es beinahe täglich bombardiert wird. Ich war in der Republik Moldau 100 Kilometer vor Odessa. Meine Erfahrung ist, je näher an der Front, desto ruhiger die Menschen. Da wird Krieg zur Routine. Je länger dieser unsägliche Krieg andauert, umso fatalistischer werden die Menschen. Wenn du von früh bis spät diese Alarm-Warnungen bekommst, macht es keinen Sinn, sich ständig darüber aufzuregen. Entweder trifft es dich oder nicht. Das Leben muss ja irgendwie weitergehen.
Hat das Essen in diesen chaotischen Zeiten eine besondere Funktion in einem Land wie der Republik Moldau?
Kaminer: Ja, die Restaurants der halben Ukraine mit ihren Köchen sind dahin abgewandert. Am schwarzen Meer wird geschossen, deshalb ist die Kette “Das schwarze Meer” jetzt nach Kischenau übergesiedelt. Die Republik Moldau hat dadurch einen Meereszugang bekommen. Das gemeinsame Kochen und Essen bleibt auch im Krieg der große Spaß des Lebens.
Wird man in der Republik Moldau tatsächlich dafür bezahlt, für Russland zu demonstrieren oder haben Sie sich einen schrägen Spaß erlaubt?
Kaminer: Nein, nein, das ist kein Spaß, ich denke mir solche Geschichten doch nicht aus! Moskau überweist natürlich nicht für jede Demo einen Betrag, das übernehmen Leute des Regimes, Putins Handlanger vor Ort, die mit dem russischen Seelenheil Geld gemacht haben. Ihr Geld gehört quasi nicht ihnen allein, sondern ihrem Chef und das wissen sie auch. Das ist wie bei allen russischen Oligarchen zurzeit.
Sie schreiben auch über „Georgiens flüssige Küche”. Die Georgier haben den Wein erfunden, jedenfalls behaupten sie das. Ist die flüssige Nahrung dort von besonders hoher Qualität?
Kaminer: Nicht der Wein selbst, aber der Umgang mit diesem Produkt faszinierte mich. Der angeborene Stolz der Georgier scheint etwas ganz Besonderes auf der Welt zu sein. Egal wo man ist – in einer Kirche, bei der Polizei, in einem Buchladen – sofort muss man einen Wein probieren. Das ganze Land ist eine pausenlose Weinverkostung. Darum muss man nach Georgien immer eine zweite Leber mitnehmen.
Hat der Alkohol in jedem Land dieselbe Funktion?
Kaminer: Es heißt in meinem Buch „Tiramisu oder Suppe“, aber die überwiegende Küche, die da beschrieben wird, ist flüssig und alkoholhaltig. Ohne Alkohol wäre der EU nicht beizutreten.
Hat die osteuropäische Küche generell Verständnis für Diäten, Vegetarier und Veganer?
Kaminer: Es gibt so viele unterschiedliche Diäten, wenn man sie jeden Tag variiert, kann man gut mit jeder Küche klarkommen. Es gibt sogar eine Fett- und eine Zuckerdiät. Eigentlich alles, was man will. Verständnis für Vegetarier und Veganer hat die osteuropäische Küche durchaus. Würden die Veganer zum Beispiel Hühnchen essen, dann wäre alles in Ordnung. Für Osteuropäer ist das ja kein Fleisch.
Ihre Tochter besucht regelmäßig die Ostpro-Messe in Berlin Karlshorst. Was schätzt die junge Dame an nostalgischen Ostprodukten?
Kaminer: Nicht nur sie, sondern ihr ganzer Berliner Freundeskreis ist mit dem Bild von der DDR als dem besseren Deutschland aufgewachsen. Einem perfekten Ort auch für Veganer und Vegetarier. Diese Generation steht auf diese gemäßigte, aber geschmackvolle Küche. Sie hatte aber keinerlei Berührung mit dem Sozialismus durch die Gnade der späten Geburt. Das einzige, was sie von der DDR kennt, kommt aus dem Film „Good Bye, Lenin”. Ich beschreibe in meinem Buch, wie mich diese ziemlich nette Komödie überall auf der Welt verfolgt, bis hin nach Italien. Manchmal werden Länder zu Filmen. Die eigenen Erinnerungen verblasen schnell. Aber an Filme erinnert man sich ewig. Und so findet eine Verwechslung statt. Man glaubt, etwas persönlich gesehen zu haben, in Wahrheit war es aber nur auf der Leinwand.
Waren die Lebensmittelprodukte in der Sowjetunion denen in der DDR ähnlich?
Kaminer: Nein, natürlich nicht. Die DDR war für uns das feinste Ausland überhaupt. Ich war nur einmal da, und das hat mich damals sehr fasziniert. In der Sowjetunion gab es zum Beispiel nur sehr wenige Waren mit Verpackung. Das hätte der Jugend von heute gefallen. Die Lebensmittel hatten auch keinen Namen. Käse war Käse, Butter war Butter, Wurst war Wurst. Eine dicke Dame hat die Sachen immer in grobes Papier gewickelt und dir vor die Nase gelegt.
Wladimir Kaminer ist am 23. Januar zu Gast beim Leselust-Festival im ZENTRUM Bayreuth. Tickets und Infos gibt es unter www.leselust-bayreuth.de.