Mit viel Humor erzählt Wladimir Kaminer in seinem aktuellen Buch von den Versuchen, seiner Mutter die heutige komplexe Welt zu erklären. Die 90-jährige Dame sieht sich konfrontiert mit den Forderungen ihrer Enkel nach einem radikal anderen Lebensstil. Mit seinen generationsübergreifenden Familiengeschichten plädiert der deutsch-russische Autor für einen regen Austausch zwischen Jung und Alt. Wladimir Kaminer, 55, gab Olaf Neumann Auskunft über den Grund seiner
ungebrochenen Lebensfreude, Putins Propaganda und darüber, wie sich Russen in ihrer Muttersprache unabhängig informieren können.
bayreuth4U: In Ihrem Buch „Wie sage ich es meiner Mutter“ erklären Sie Ihrer 90jährigen Mama die neue Welt, vom Gendersternchen bis Bio-Siegel. Würden Sie Ihre in der Sowjetunion aufgewachsene Mutter als eine emanzipierte Frau bezeichnen?
Wladimir Kaminer: Das ist eine Emanzipation, die durch Not entstanden ist. Meine Mutter ist eine sehr fortschrittliche Person. Durch Corona hat sie sich ziemlich digitalisiert, sie hat jetzt viel mehr Apps als vor der Seuche. Ihre Nachrichten bekommt sie inzwischen nicht mehr aus dem Fernsehen, sondern hauptsächlich aus dem Netz. In meinem neuen Buch versuche ich vor allem mir selbst ein Bild von der Zukunft zu machen, indem ich das formuliere, was um uns herum geschieht. Wir haben oft einen Tunnelblick und sehen das Eigentliche nicht. Ich spreche sehr gern über die Zukunft mit meinen inzwischen erwachsenen Kindern. Meine Mutter hat trotz ihres hohen Alters durchaus den Anspruch, in diese Zukunft mit einzutreten.
bayreuth4U: Ihre Tochter studiert Gender Studies an der Humboldt Universität in Berlin.Wird in Ihrer Familie viel über Themen wie Wokeness, kulturelle Aneignung und Gendergerechtigkeit diskutiert?
Kaminer: Bei uns wird eher über postkoloniale Geschichte gesprochen. Deutschland hat sich ja ganz schlimm aufgeführt in Afrika, aber viele haben sich nie dafür interessiert. Das ist eine neue scheußliche Seite der Vergangenheit. Eine solche Seite braucht jede Generation. Die Generation davor hat die Nazis und die Kommunisten aufgearbeitet, und die heute 20-Jährigen gehen noch tiefer in die Geschichte hinein und haben plötzlich Deutschland als Kolonialstaat entdeckt. Mein Gott! Die Geschichte wird immer neu geschrieben und angepasst an die aktuellen Nöte und Unzulänglichkeiten. Wir brauchen sie.
bayreuth4U: Helfen Ihre Kinder Ihrer Mutter, mit der sehr komplexen, schwer nachvollziehbaren Welt von heute zurechtzukommen?
Kaminer: Es ist in erster Linie eine Schule der Toleranz. Man sollte die anderen so wahr nehmen, wie sie sind und nicht versuchen, sie von etwas anderem zu überzeugen. Es ist immer sehr lustig zu beobachten, wenn mein Sohn, der ein Jahr lang als veganer Koch gearbeitet hat, mit meiner Mutter einkaufen geht. Für sie ist Hühnchen kein Fleisch, das war schon immer so in Russland. Sie versteht nicht, was daran so verwerflich ist, Chicken Wings zu essen. Mein Sohn kann sehr eindringlich ausmalen, dass das eigentlich Gebeine von gequälten, gefolterten Lebewesen sind. Ich hatte immer großen Spaß, bei diesen Gesprächen dabei zu sein und zu schauen, wie meine Mutter darauf reagiert.
bayreuth4U: Und wie geht sie damit um?
Kaminer: Es ist eigentlich nie zu spät. Bestimmte Dinge sieht sie vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Mein Gott, wenn man auch mit 90 Jahren noch etwas begreifen kann, ist das doch fantastisch.
bayreuth4U: Was können Ihre Kinder von der Großmutter lernen, die zwei sehr unterschiedliche gesellschaftliche Systeme kennengelernt hat?
Kaminer: Zum Beispiel, wie man richtig Pelmeni (russische Teigtaschen, die Red.) macht und wozu man zwei Kühlschränke braucht. Das steht alles in meinem Buch.
bayreuth4U: Schaut Ihre Mutter noch gern die russische Sendung „Seelenkochen“?
Kaminer: In Russland sind wegen des Krieges alle Unterhaltungsprogramme abgeschafft worden. Es gibt nur noch Nachrichten und Schwarzweißfilme aus der Kriegszeit. Das hat auch damit zu tun, dass die absolute Mehrheit der Menschen, die die TV-Programme immer hergestellt haben, außer Landes ist. Die ganzen Stand-Up-Comedians, Musiker, Fernsehjournalisten und Moderatoren. Der Ruhm und die Ehre des russischen Fernsehens haben das Land verlassen.
bayreuth4U: Also läuft in der Glotze eigentlich nur noch Propaganda?
Kaminer: Ja, ja, das ist eben das Problem. Aber ich versuche von Berlin aus nach Russland zu senden – mit Erfolg. Wir haben hier den verbotenen unabhängigen Radiosender Echo neu aufgebaut. Es geht voran. Er hieß früher Echo Moskaus. Wir erreichen von Berlin aus jetzt schon ein Millionenpublikum in Russland.
bayreuth4U: Und Sie liefern selbst einzelne Programmbeiträge in Ihrer Muttersprache?
Kaminer: Ich war ein paar Mal zu Gast dort. Ich habe dabei geholfen, diesen Sender in Berlin im Grunde genommen neu zu erschaffen. Ich habe das Studio gefunden und die Mitarbeiter, die über Europa verstreut waren, nach Berlin geholt und das alles gebündelt.
bayreuth4U: Haben die Menschen in Russland die Möglichkeit, Ihr kremlkritisches Programm zu empfangen?
Kaminer: Ja, das Internet wurde nicht abgeschaltet. Ich glaube, die Regierung hat davor Angst. Alle russischen Eltern spielen ihren Kleinen jeden Abend Gute-Nacht-Märchen auf irgendwelchen YouTube-Kanälen vor. Und das Volk darf ja von diesem Krieg eigentlich nichts zu spüren bekommen. Diese spezielle Operation ist ganz weit weg von Russland. Es wäre ein krasser Einschnitt in den Alltag, wenn die Regierung YouTube abschaltete. Deswegen passiert es nicht.
bayreuth4U: Viele Russen haben auch Verwandte in der Ukraine. Da finden sicher Gespräche am Telefon statt.
Kaminer: Ja, das stimmt. Es gab viele Fälle, wo Menschen dem russischen Fernsehen mehr glaubten als ihren eigenen Verwandten am Telefon. Die Verwandten in der Ukraine sagten: „Wir sitzen hier im Bunker, und russische Bomben fallen auf unsere Häuser“. Die Russen antworteten: „Das kann nicht wahr sein, ich sehe im Fernsehen etwas ganz anderes!“ Ich habe auch keine Erklärung dafür, wie die Leute manchmal ticken. Ich glaube, früher oder später wird die Wahrheit ans Licht kommen. Das wird umso peinlicher für die Menschen in Russland sein, je länger sie abstreiten, in was für eine Kloake Russland gesprungen ist. Heute habe ich gelesen, die Unterstützung für die Spezialoperation wird immer geringer in Russland. Noch vor Kurzem waren es 86 Prozent, jetzt sind es unter 70. Je länger dieser Krieg dauert, desto weniger Lust hat die Bevölkerung darauf.
bayreuth4U: Ihre Mutter hat im Traum eine Nachricht an Putin geschrieben: Der Krieg müsse verschoben werden. Glauben Sie, dass das russische Volk etwas gegen diesen Krieg ausrichten könnte?
Kaminer: Man braucht ja nicht das ganze Volk, um etwas auszurichten. Die große Oktoberrevolution ist auch nicht daraus entstanden, dass ein ganzes Volk auf die Straße ging. Es reichen eigentlich ein paar Hundert Menschen, die noch ein bisschen Anstand und Grips im Kopf haben, um diese Situation zu ändern.
bayreuth4U: Telefoniert Ihre Mutter noch regelmäßig mit ihren Verwandten in Moskau?
Kaminer: Ja, aber sie versuchen, das Thema Krieg zu vermeiden. Die Schwester meiner Mutter behauptet zwar, nicht fernzusehen, aber in den Gesprächen hört man Zitate aus dem Fernsehen. Zum Beispiel: „Wir mussten ja in die Ukraine gehen, sonst hättet ihr uns ja angegriffen!“ Und wenn meine Mutter dann fragt: „Warum habt ihr nicht so lange gewartet, bis wir euch angreifen, dann würdet ihr heute ja nicht so blöd dastehen“, sagt meine Tante: „Lass uns lieber über etwas anderes reden!“
bayreuth4U: Sie haben Ihre beliebte Russen-Disko in „Ukraine-Disko“ umbenannt. Haben Sie das Programm komplett umgestellt?
Kaminer: Dafür musste ich eigentlich nicht viel tun, wir hatten schon immer fast 70 Prozent ukrainische Musik in diesem Russen-Disko-Programm. Die Ukrainer beherrschen diesen schnellen, tanzbaren Musikstil ganz gut.
bayreuth4U: Welche ukrainischen Künstler kommen beim Publikum besonders gut an?
Kaminer: Ich habe mit meinem Kollegen Yuriy Gurzhy aus Charkiw schon 2008 die Platte „Ukraine do Amerika“ gemacht, für die wir 13 Bands ausgewählt hatten, die nach unserer Erfahrung hier gut ankommen – von VV über Vasya Club bis Mead Heads XL.
bayreuth4U: Wie denken Sie über das Ausgrenzen russischer Künstler?
Kaminer: In der Berliner Philharmonie läuft das russische Programm ununterbrochen, als würden wir außer Tschaikowsky, Shostakovich und Scriabin nichts anderes mehr spielen können. Jetzt wollen vor allem baltische Länder, dass Russen überhaupt keine Visa mehr bekommen. Estland zum Beispiel hat nur 1,1 Millionen Einwohner und seit Ende Februar 50.000 Russen aufgenommen. Das ist natürlich grenzwertig. Bislang sind insgesamt über eine Million Russen ausgewandert: die Jugend, Geschäftsleute, Kulturtreibende, Journalisten, Autoren, alle sind hier.
bayreuth4U: Was bindet Russland noch an Europa?
Kaminer: In den vergangenen Jahren haben die Europäer viele Kontakte geknüpft im Bereich von Wissenschaft, Kunst, Kultur, Information. So viele Vereine sind entstanden. Das waren alles unsichtbare Fäden, die Russland an Europa binden. Und dann sowas! Soll eine deutsche Uni noch mit einer russischen Uni einen Studentenaustausch betreiben, wenn deren Direktor einen offenen Brief zur Unterstützung des Krieges in der Ukraine unterschrieben hat? 500 Direktoren haben solch einen Brief unterzeichnet, und ich bin mir sicher, sie wurden vorher nicht gefoltert. Es ist einfach eine schwierige Situation.
bayreuth4U: Seit dem Angriff auf die Ukraine fliehen russische Intellektuelle ins Ausland. Wie will Putin auf diese Weise ein neues Großrussland erschaffen?
Kaminer: Putin glaubt, es ist gut, wenn niemand mehr da ist, der klüger und gebildeter als der Führer selbst ist. Aber dafür muss er noch viele Leute rauswerfen.
bayreuth4U: Und die Daheimgebliebenen fallen alle auf Putins Propaganda rein?
Kaminer: Ich glaube das ehrlich gesagt nicht. Auch meine Tante, Mamas Schwester in Moskau, glaubt nicht tatsächlich, dass Europa oder die Ukraine Russland angegriffen hätte. Das ist ja eine absurde Vorstellung. Sie sagen es einfach nur, weil sie eben nichts anderes sagen können. Sich diese Katastrophe selbst einzugestehen, ist sehr schwer, besonders für ältere Menschen. Das wäre das Desaster ihres Lebens. Damit wären ja die vergangenen 30 Jahre für die Katz gewesen. Die ganze russische Wirtschaftselite hat unheimlich viel dafür getan, um aus Russland ein entwickeltes europäisches Land zu machen. Dieses Lebensprojekt ist jetzt unter die Räder der Panzer gekommen.
bayreuth4U: Wofür lohnt es sich, auf der Welt zu sein?
Kaminer: Es macht Spaß! Die Voraussetzung ist, man liebt diese Welt. Die Menschen gehen einem natürlich auch furchtbar auf den Geist. Es gibt immer irgendetwas, was stört. Wenn man das aber als Gesamtkunstwerk mag und gerne hier ist, dann lohnt sich das Leben, ja.
Am 29. Januar ist Wladimir Kaminer auf dem Leselust-Festival im ZENTRUM Bayreuth mit seinem neuen Buch live zu erleben. Tickets gibt‘s unter www.motion.gmbh.