Corona ist ein Arschloch

… oder warum die Lage nach wie vor zu brenzlig ist für Ungeduld und Unvernunft

Ich hasse Einschränkungen aller Art. Krawattenzwang, Sitzplatzordnungen in Bussen, Fahrradverbote in Parks, Textlängenvorgaben, Benimmregeln an Verkaufstheken oder in Amtsstuben – das alles ist mir zuwider. Da bin ich, tief in meinem Innern, Rebell. Rock’n‘Roller. Und kämpfe bald täglich, aber längst nicht immer erfolgreich, gegen eine gewisse anarchische Lust an, die gesellschaftlichen Konventionen zu durchbrechen.

Wider die innere Freiheit

Natürlich bin ich mit dieser Lust auf (innere) Freiheit nicht alleine. Weshalb ich auch glaube, dass sich viele, sehr viele Menschen in diesen Zeiten besonders unwohl fühlen. Die Corona-Pandemie schränkt uns ein, beschneidet unsere innere Freiheit, verändert Vokabular und Sprache, bringt unser Weltbild durcheinander, wirbelt unseren Alltag durcheinander. Und das mögen wir nicht.

Wir teilen unser Unbehagen

Und weil es womöglich befreiend wirkt, behalten wir unser virales Krisen-Unbehagen nicht etwa bei uns, sondern zeigen es der Welt. Bei bisweilen obskuren Demonstrationen, im Netz, aber auch ganz persönlich.  Zum Beispiel über ein hübsches Benefiz-T-Shirt aus der „Kneipenterroristen“-Edition mit der Aufschrift: „Corona ist ein Arschloch“. Der Spruch, der längst auch Trinkflaschen oder Sporttaschen und bald vielleicht auch Baumwollsocken ziert, steht womöglich für ein (neues?) Lebensgefühl, das manche in Foren hinausposaunen, andere mit einem gewissen humoristischen Augenzwinkern auf dem Leib tragen.

Die Lage ist brenzlig

Tatsächlich stimmt das wohl, dass Corona ein Arschloch sei. Corona kein lokales Ereignis, sondern die weltweit größte Herausforderung der Nachkriegsgeschichte. Und wenn wir dann die tödlichen und doch abstrakten Fernsehbilder aus Italien, China oder den USA übereinanderlegen mit den Einschränkungen, die wir konkret auch in Bayreuth hinnehmen müssen, um das Virus nicht an uns heranzulassen, dann spüren wir: die Lage ist brenzlig, ja: existenziell. Corona heimtückisch, hinterhältig, ungerecht und tödlich. Und nur wir selbst können Corona die Kraft nehmen.

Abstand als Segen? Eigentlich abstrus…

Das haben wir rasch verinnerlicht. Und verstanden. Wir haben akzeptiert, dass unsere Freunde und Bekannten in Kurzarbeit gehen, ins Homeoffice wechseln mussten oder den Job verloren haben. Wir haben gelitten mit den Eltern, die neben Haushalt und Homeoffice auch noch wochenlang die eigenen Kinder beschulen mussten. Wir haben es hingenommen, dass in Heimen, Hospizen oder Krankenhäusern Menschen, die unsere Anwesenheit so sehr gebraucht hätten, plötzlich nicht mehr besuchen durftenen. Und wir haben uns vorgestellt, wie furchtbar es sein muss, sich nicht von Verstorbenen verabschieden zu dürfen. Wir haben gelernt, dass es nicht nur Krisenstäbe zur Bewältigung der Pandemie braucht, sondern auch Menschen mit systemrelevanten Berufen, die wir bislang viel zu selten wertgeschätzt hatten und die merkwürdigerweise fast alle auch schlecht bezahlt wurden und werden. Wir haben geschmunzelt darüber, dass bei Real, Edeka oder REWE Klopapierrollen gehamstert und Nudeln plötzlich Mangelware wurden (während die Franzosen lieber Rotwein und Kondome horteten). Wir haben akzeptiert, dass man keine Hände schütteln und Umarmungen unterlassen sollte, weil Nähe tödliche Folgen haben kann. Abstand als Segen – ganz schön abstrus! Die Videokonferenz wurde plötzlich Erfolgsmodell, Kneipen und Clubs, Behörden und Schwimmbäder, Kinos und Konzertsäle, Läden und Betriebe dagegen zur Verschlusssache. Buslinien wurden eingestellt, Radler dominierten die Straßen, der Himmel war flugzeugfrei, der Urlaub storniert. Corona ist tatsächlich ein Arschloch.

Die Öffnung naht

Jetzt stecken wir mittendrin in Phase zwei. Auch in Bayreuth. Am Markt herrscht wieder Leben. Auf dem Volksfestplatz bieten rührige Macher Autokino und Autokonzerte an. Den Ball des Sports gibt es als Livestream, immerhin, weil der Abstand garantiert und Ansteckung ausschließt. Die Kinder sind wieder in den Kitas oder (teilweise) in der Schule, die Bundesliga geistert vor sich hin, die Muckibuden füllen sich, im Kreuzer darf wieder geschwommen werden – wenn auch im Schichtdienst und im Kreis. Auf dem Stadtparkett darf unter Einhaltung der Abstandsregelungen wieder demonstriert werden, beispielsweise für oder gegen Corona-Maßnahmen. Und auf dem Wochenmarkt würde nichts, aber auch gar nichts an Corona erinnern, wenn da nicht diese Masken und merkwürdig lange Schlangen wären. Will heißen: Die Zeichen stehen – auch wenn Clubs und Bars noch immer im Lockdown verharren müssen, Großveranstaltungen vorerst tabu bleiben, die Kommunalpolitik aufgrund von Empfehlungen der Staatsregierung leider noch immer nicht zur politischen Normalität zurückgekehrt ist und Bayreuth zum ersten Mal seit Neu-Bayreuth einen Sommer ohne Festspiele erleben wird – auf Öffnung. Und wir alle lechzen nach dieser Normalität.

Zweifel und Klagen

Phase drei, also die finale Rückkehr zur „neuen Normalität“, ist auch in Bayreuth greifbar nahe. Von Optimismus, Lebenslust und guter Laune freilich ist bislang nichtviel zu spüren. Wie auch, wenn Existenzen vor die Hunde gehen, Lebensplanungen durcheinandergewirbelt werden, nichts mehr ist wie es mal war. Deshalb begegnen uns immer mehr Zweifel und Klagen. Immer mehr Kritik an den Krisenmanagern wird laut, immer weniger Verständnis gibt es für die Aufrechterhaltung von Corona-Sanktionen. Der Ton in Foren wird härter. Die Menschen gereizter. Und ja, auch Leute, die wir ganz anders eingeschätzt haben, schlagen bisweilen merkwürdige Töne an. Mich erinnert das an eine Urlaubsfahrt im elterlichen Ford Taunus 17M. Die Eltern bestens gelaunt, die Kinder quengeln von Minute zu Minute mehr. Und scheinen es nicht mehr auszhalten. Mammi, wann sind wir endlich da…  Das Unbehagen bricht sich Bahn, die Menschen wollen keine Experimente mehr, sondern ihr Leben zurück, zurück zu ihrer Normalität. Und Corona, ich bleibe da mal im unappetitlichen Bild, die Arschkarte zeigen.

Großes Unbehagen

Merkwürdigerweise löst bei mir diese Phase bei aller Hoffnung vor allem großes Unbehagen aus. Ich fühle mich unwohl, wenn mir jemand ohne Maske zu nahekommt. Oder nicht in die Armbeuge niest oder hustet, sondern Keime und Viren in die Welt pustet. Ich wundere mich über die enorme Ungeduld, die massive Kritik an den Anti-Corona-Maßnahmen in Bund, Land und Kommunen und das lauter werdende Leugnen, dass erst unser aller Einschränkung Schlimmeres verhindert hat. Ich verzweifle ob der neuen Sorglosigkeit der Menschen, die die Gefahren, die Corona unverändert im Köcher hat, einfach ausblenden. Ich staune über die zunehmende Unfreundlichkeit, Unbelehrbarkeit und Ahnungslosigkeit, die uns plötzlich wieder umgibt. Auch in Bayreuth. Als wären da nie diese anderen Bilder gewesen. Die Bilder von Tod und Schmerz. Als würden nicht, in anderen Teilen der Welt, verrückt gewordene Politiker unter Nichtbeachtung aller Fakten die Pandemie wegleugnen oder verharmlosen. Als lebten wir weiter in Disneyland. Ich mache mir Sorgen, dass wir jetzt, kurz vor Schluss und ohne Rücksicht auf Verluste, eine zweite Welle auslösen könnten. Und wenn man dann noch sieht, wie leichtfertig riesige Fleischkonzerne mit dem Virus umgehen, dann schwillt mir der Kamm.

Gutes Krisenmanagement

Die Politik dagegen, sagen wir das ruhig mal pauschal, hat die bisherige Krise sehr professionell gemanagt. Ruhig, transparent, gestützt auf die Erkenntnisse der Wissenschaft, weitsichtig, über parteipolitische Grenzlinien hinweg und durchaus mutig. Auch wenn, natürlich, Fehler gemacht wurden. Auch wenn nicht alles nachvollziehbar war und ist und es Widersprüche zuhauf, womöglich auch Ungerechtigkeiten gegeben haben mag. Auch wenn wir das ganze Ausmaß der Pandemie wohl erst in vielen Jahren werden abschätzen können. Auch wenn es noch Jahrzehnte dauern wird, bis die jetzt offenbar gewordene gesellschaftliche Mängelliste (Arzneimittelproduktion in Deutschland/Europa, Vorratshaltung Masken/Medikamente, Ausstattung Gesundheitsämter, Wertschätzung systemrelevanter Berufe, Krisenkommunikation) abgearbeitet ist. Auch wenn durch entschlossenes, aber teures Handeln den nachfolgenden Generationen ein gigantischer Schuldenberg zugemutet wird. Wären da nicht die politisch motivierten Manöver einzelner Länderchefs gewesen, hätte man DER Politik Bestnoten geben können. Ich jedenfalls bin froh, diese Krise in Deutschland und nicht in Brasilien, den USA oder auch in Großbritannien erlebt zu haben.

Aber jetzt….

Jetzt freilich muss der Schalter umgelegt werden. Es braucht nicht etwa mehr Sorglosigkeit oder weniger Vernunft, sondern –­ neben Abstands- und Vorsichtsmaßnahmen – ein kluges, gestaffeltes und transparentes Konzept zur Rückkehr zur Normalität. Die Regierungen in Bund und Ländern, aber auch die Verwaltungen vor Ort müssen den Menschen verlässliche Perspektiven und Fahrpläne präsentieren und Rechnungen aufmachen. Wir alle wollen wissen, welche Projekte wir uns wegen Corona nicht mehr leisten können, wo wir Abstriche machen müssen. Wir wollen wissen, wie es nach den Schulferien weiter geht, welche Maßnahmen Bestand haben werden, wann was heruntergefahren werden kann. Auch auf die ausdrückliche Gefahr hin, dass spätestens dann wieder die Bremse gedrückt werden muss, wenn es in bestimmten Regionen gesundheitspolitisch erforderlich wird. Stadt- und Kreistage müssen wieder tagen, Vereine ihre Mitgliederversammlungen abhalten, ehrenamtliches Engagement muss wieder möglich werden, die Kultur muss wieder ein Spielfeld bekommen, Handel, Handwerk, Gastronomie und Industrie müssen durchstarten. Unser Leben muss wieder in die gewohnten Bahnen zurückfinden. Freilich immer unter Beachtung der erforderlichen – neuen – Spielregeln.

Vorsicht vor den Verharmlosern

Den Dränglern und Verharmlosern aber sei gesagt: Der ganze Kraftakt, den wir auf uns genommen haben, um die Pandemie zu bezwingen, darf nicht durch unbedachtes Handeln aufs Spiel gesetzt werden! Die Solidarität und Hilfsbereitschaft in der Krise, die uns als Gesellschaft stark gemacht hat, darf nicht umsonst gewesen sein. Ich bin froh, dass unsere Politiker und Krisenstäbe sehr verantwortungsvoll agieren. Ich bin froh über die Arbeit all derer, die in Krisenzeiten einen unschätzbar wertvollen Dienst für die Gesellschaft leisten. Sie handeln nicht leichtfertig, sie spielen nicht mit unzähligen Menschenleben. Sie sind da. Und tun, was getan werden muss. Danke dafür. Euer aller Vor-, Umsicht und Entschlossenheit hat Leben gerettet.

Was können wir tun?

Wir sollten geduldig, vor allem: vernünftig bleiben. Je mehr Menschen das Virus austricksen, desto größer unser aller Chance, es zu beherrschen. Warum also nicht die Anti-Corona-App herunterladen ­– sie ist ungleich sicherer als Facebook, WhatsApp & Co! Warum beruhigen wir unsere innere Unruhe noch ein paar Wochen und Monate – tragen Maske, halten Abstandsregeln ein und machen mal Urlaub dahoam. Das, auch das hilft der heimischen Wirtschaft.  Wenn viele das tun, wenn sich Schwarmintelligenz gerade in dieser Krise durchsetzt („wir sind mehr“), dann schaffen wir auch diese Herausforderung. Die wahre Anarchie in Corona-Zeiten ist die Erkenntnis, dass nur zwei Dinge uns vor einer zweiten Welle beschützen können. Unsere Vernunft. Und/oder ein Impfstoff.  Auf den Impfstoff können wir hoffen. Die Vernunft können und müssen wir dagegen selber aufbringen. Jeder für sich, aber auch für alle anderen.

Weil es nicht sein darf, dass Corona, das Arschloch, noch einen weiteren Sieg feiert.

Zur Person
Gert-Dieter Meier (64) ist seit mehr als 35 Jahren Journalist ­– vor allem im Bereich Kommunalpolitik und Kultur – unterwegs. Seit 1. Mai gehört er als Unabhängiger dem Bayreuther Stadtrat an. Für Bayreuth 4U beleuchtet Meier in seiner monatlichen Kolumne das Geschehen in Bayreuth.

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