Kettcar zählt zu den wichtigsten Bands der deutschen Indieszene. Am 12. August gastiert die Gruppe um Sänger Marcus Wiebusch über 20 Jahre nach ihrem Konzert im Glashaus wieder in Bayreuth: auf der Seebühne der Wilhelminenaue. Pünktlich zum Release des neuen Albums sprach Andi Bär mit dem Frontmann über Fußball, Politik und natürlich auch das auf der neuen Scheibe vertretene Lied „Kanye in Bayreuth“.
bayreuth4U: Marcus, schön, dass du einen Tag nach dem Konzert in Berlin schon wieder fit genug bist für ein kurzes Gespräch bist. Wie lang hat die After-Show-Party denn gedauert?
Marcus: Tatsächlich gar nicht lange. Wir hatten heute früh einen Termin im ZDF-Morgenmagazin. Also mussten wir schon um 4.40 Uhr aufstehen, um um 5.30 Uhr im Sender zu sein.
bayreuth4U: Kettcar haben ganze sieben Jahre lang kein Album mehr produziert. Habt ihr so lange gewartet, bis der FC St. Pauli wieder ans Tor zur ersten Bundesliga klopft?
Marcus: Als wir die Songs geschrieben und die Platte konzipiert haben, konnte das keiner wissen. Das letzte Album haben wir 2017 gemacht, waren dann zwei Jahre auf Tour. Und dann kam Corona. Das ist mir als Songwriter nicht so gut bekommen. Und dann haben wir geackert. Als wir geschrieben haben, stand St. Pauli im Niemandsland der zweiten Liga. Jetzt läuft es ja wie auf Schienen in Richtung Bundesliga. Das ist für uns alle ganz, ganz toll. Aber auch überraschend.
bayreuth4U: Wie spannen wir jetzt den Bogen zur Musik? Kettcar ist ja als politisch aktive Band bekannt. Hat es mit der neuen Scheibe so lange gedauert, da sich Musik und Fußball doch sehr ähnlich sind und es immer schwieriger wird, tiefer zu gehen?
Marcus: Wir brauchen für unsere Texte schon lange, das stimmt. Mir kommt es gar nicht so lange vor. Wir haben hart gearbeitet, dann dauert es seine Zeit. Mit den politischen Texten versuchen wir auch, nicht parolenhaft oder einfach zu werden. Die Zeit und die Probleme sind ja sehr komplex. Daher versuchen wir, Geschichten und Narrative aufzubauen, anstatt Erklärungen zu haben. Das sorgt dafür, dass – wenn man seine Haltung nicht verändern will – man sehr lange überlegt, wie man das hinkriegt.
bayreuth4U: Drei Singles hat Kettcar schon vorab veröffentlicht, am 5. April kommt das Album auf den Markt. Was dürfen die Leute erwarten?
Marcus: Wir haben mit Bassist Reimer und mir zwei Texter in der Band. Wenn wir dann einen Text haben, bei dem wir meinen, dass es den schon gibt, verwerfen wir diesen wieder. Da gibt es wenig Schonung. Und dabei kommen dann recht eigenwillige oder brachiale Songs raus. Nicht einmal im Sinne von musikalisch brachial, aber von der Haltung her.
bayreuth4U: Sind es die politischsten Kettcar, die man bisher zu hören bekam? „München“ war ja ein grandioser Vorgeschmack mit seinem Video und dem Text über die NSU-Morde. Ein hartes, aber echtes Brett! Ich hatte Gänsehaut.
Marcus: Genau den Effekt wollten wir erzeugen. Wir wollen nicht, dass die Leute „ganz nett“ denken und es durchwinken, sondern wir wollen, dass es etwas mit dem Hörer macht. Dass er sich bestätigt fühlt oder es als Impuls sieht. Die Zeiten sind ruppig und schwierig. Wir wollen das Leben der Menschen bereichern, das ist unsere wirksamste Waffe als Musiker. Und wenn wir das Leben bereichern können, indem wir politische Texte machen, dann fühlt sich das gut und richtig an.
bayreuth4U: Jetzt seid ihr nicht gerade dafür bekannt, Bayreuth-affin zu sein. Meines Wissens seid ihr erstmals in der Wagnerstadt.
Marcus: Halt, Vorsicht! Da muss ich einhaken. Wir haben tatsächlich 2002 im Glashaus gespielt! Das war noch vor der Veröffentlichung unserer ersten Platte. Und danach nie wieder. Es gibt sogar noch Plakate davon!
bayreuth4U: Euer Song „Kanye in Bayreuth“ ist nicht gerade eine Liebeserklärung an den Grünen Hügel.
Marcus: Technisch gesehen ist Bayreuth ja eine Metapher, da wir über die Person Richard Wagner das ganze Stück über „Werk-und-Autor-trennen“ deklinieren. Ich weiß nicht, ob du Werke von Künstlern noch hörst, von denen man weiß, dass sie Arschlöcher sind. Das muss ja jeder für sich selbst entscheiden. Das erkennt man auch in Bayreuth. Wenn Festspiele sind, ist das immer ein Who‘s who der Politik und der Prominenz. Bei Wagner hat man sich einfach darauf geeinigt, dass man Werk und Autor gefälligst trennt. Ich habe ziemlich viel über ihn gelesen, auch sein antisemitischstes Pamphlet „Das Judentum in der Musik“. Für mich ist es völlig unstrittig, dass er selbst für damalige Verhältnisse ein glühender Antisemit, dass er wirklich ein dummes Arschloch war. Gleichzeitig muss ich, obwohl ich nicht viel für klassische Musik übrig habe, anerkennen, dass man ihm das musikalische Genie kaum absprechen kann. In diesem Spannungsfeld gibt es ganz viele Menschen. Die liste ich in dem Song auf. Bemerkenswert ist, dass bei bestimmten Menschen – nehmen wir Michael Jackson – sich so ein Mob an Radiohörern bildet, die klar ausdrücken, dass sie ihn bei dem Sender nicht mehr hören wollen. Ich kann Jackson nicht mehr hören. Aber bevor ich dir sage, dass du das nicht mehr hören darfst, würde ich mir eher einen Arm abhacken. Das ist die Schwierigkeit, es mit sich selbst auszumachen. Das ist die übergeordnete Klammer des Songs. Das Thema ist sehr komplex. Mit der Überklammer Richard Wagner habe ich versucht, mich dem Thema zu nähern.
bayreuth4U: Gab es bei Kettcar einmal diesen Moment, dass man überlegt, ob das alles noch Sinn macht? Die Antwort gibst du ja in dem Song „Der Brief“ – Zeilen des 20-jährigen Marcus an den Herrn Wiebusch in seinen Fünfzigern.
Marcus: Die Zeit gab es 2012. Da stand die Band auf der Kippe. 2014 habe ich dann mein Soloalbum gemacht. Und dann sind wir gestärkt zurückgekommen. Jetzt stehen wir auf sehr guten Beinen. Und was mein 20-jähriges Ich betrifft: Das spiele ich in dem Song ja ein bisschen als Gedankenexperiment durch. Bei mir ist die Besonderheit, dass mein 20-jähriges Ich schon härter drauf war. Ich habe in der Punkband „… But Alive“ gespielt, da gab es schon harte Texte. Die würde mein 55-jähriges Ich heute sicher nicht mehr schreiben. Ich weiß natürlich, wie ich damals drauf war und was mich zu dem gemacht hat. Mein 20-jähriges Ich geht mit meinem heutigen Ich definitiv nicht gut ins Gericht, da ist schon Anklage. Aber ich versuche im Refrain den Moment mit dem freien Willen einzubringen und wie wir in jeder Phase unseres Lebens auch Produkte unserer Erfahrungen und Möglichkeiten sind. Das ist schon fast ein philosophischer Gedanke, wie weit man das irgendwie als verurteilenswert sehen kann, wie man heute wurde.
bayreuth4U: Lass uns die Zeit zurückdrehen. Ihr habt euch ja schnell als einer der Vorzeige-Acts aus der Hamburger Schule gemausert. Wobei du den Vergleich ja gar nicht so magst.
Marcus: Wir gehören ja rein technisch betrachtet auch nicht zur eigentlichen Hamburger Schule. Das waren Sterne, Blumfeld und Tocotronic. Wenn, dann sind wir so etwas wie die zweite Welle. Wenn du aus Hamburg kommst und nicht gerade völlig behämmerte Texte machst, dann bist du Hamburger Schule. Dann soll es halt so sein. Aber ich sage es immer wieder, auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen: Wir sind nicht wirklich Hamburger Schule. Wir lieben die Bands aber.
bayreuth4U: Was dürfen die Leute auf der Seebühne erwarten? Gibt es Parolen auf die Ohren oder eine ungezwungene Party?
Marcus: Eine Parolenband sind wir eigentlich so gar nicht. Wir versuchen eigentlich ganz stark, Parolen zu vermeiden – auch wenn wir eine Haltung haben. Wir freuen uns jedenfalls, nach 20 Jahren zurückzukommen! Was können sie erwarten? Ein leicht anderes Set als im April. Das war gekennzeichnet durch das Album im Gepäck. Bei den Festivals gibt es einen Querschnitt durch unsere Geschichte. Ein Potpourri der guten Laune. Wir werden auch neue Songs spielen. Bei einem bin ich mir ganz sicher: Es wird kein Kettcar-Konzert geben, auf dem wir „Landungsbrücken“ nicht spielen!
bayreuth4U: Noch steht am Tag vor dem Gig ein Off-Day im Tourkalender. Wird da der grüne Hügel vorher besucht? Oder lässt euch die Antipathie dagegen eher die Eremitage aufsuchen? Übrigens auch ein herrliches Plätzchen Erde!
Marcus: Das mit dem freien Tag wusste ich gar nicht (schmunzelt). Aber wenn wir den tatsächlich haben, dann gucken wir ihn auf jeden Fall an!
bayreuth4U: Es gibt in Bayreuth einen Fußball-Fanclub, den Altstadt Kult. Der betreibt aus Eigeninitiative ein Fußball-Museum. Mit dem FC St. Pauli verbindet den einiges. Politisch, wie auch die Leidensfähigkeit im fußballerischen Bereich. Das müsst ihr gesehen haben!
Marcus: Wo steht denn die SpVgg gerade?
bayreuth4U: Leider dümpeln wir gerade in der Regionalliga.
Marcus: Gibt es denn die Chance, dass ihr wieder aufsteigt?
bayreuth4U: Das war für nächste Saison eigentlich der Plan. Wie genau das aussieht, weiß keiner.
Marcus: Ich erinnere mich dunkel daran, dass ihr in der dritten Liga wart. Und wenn wir einen freien Tag haben, dann hätte ich da voll Bock drauf. Aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass sich diese Lücke des Off-Days noch schließt.
Kettcar sind am 12. August 2024 live beim Bayreuther Seebühnenfestival zu Gast. Tickets gibt es online und an allen bekannten VVK-Stellen.
Interview: Andreas Bär // Foto: Andreas Hornoff